Leseproben – Drei Leben im Gegenwind

Ich habe aus 130 Geschichten meines Buchs einige Leseproben ausgewählt. Sie sind sehr unterschiedlich aber repräsentativ für die Mischung interessanter Erzählungen von selbst erlebter Zeitgeschichte.

Der Beginn der Niederschrift eines lebenslangen Krimis

Das Wiedererkennen eines Hauses in Berlin löste am 15. Dezember 2015 eine ganze Kette von Erinnerungen aus. Auf dem Weg zu einem Kunden stand ich morgens kurz vor 9 Uhr plötzlich vor einem Haus an der Berliner Cicerostraße nahe dem Kurfürstendamm. Es ließ eine mehr als sechs Jahrzehnte verdrängte Erinnerung wach werden. Wie in einem Film sah ich mich, den 1947 Vierjährigen mit seinem achtjährigen Freund Achim in diesem Haus. Es war damals eine weitgehend im Bombenkrieg ausgebrannte, unbewohnbare Ruine. Leere dunkle, noch rußschwarze Fensterhöhlen blickten auf die Straße. Wir Kinder durchstreiften damals die Ruinen und ihre Keller aus Abenteuerlust und auch um vielleicht etwas Brauchbares zu finden. Oft brachten wir dann Brennholz oder auch für die damalige Zeit wertvolle Gegenstände aus den Trümmern nach Hause, die auf dem Schwarzmarkt oder auf Hamsterfahrten Tauschwert hatten oder den Haushalt ergänzten.

Als ich vor dem Haus stand, das mich so merkwürdig anrührte, sah ich uns im Erdgeschoss in einer kaputten Küche. Sie hatte im Fußboden ein kreisrundes großes Loch, etwas größer als meine Arme lang waren. In der Decke darüber ein gleichartiges. Und das Loch setzte sich identisch fort bis zum Dach. Die Decken waren nicht aus Holzbalken, sondern aus Beton. Anders als in den Gründerzeithäusern, die in Berlin zwischen 1880 und 1910 gebaut worden waren. Mir wurde erst jetzt klar, dass ein so sauber vom Dach bis in den Keller über fünf Etagen in Betondecken gestanztes Loch nur durch eine 10- oder 12-Zentnerbombe, einen Blindgänger, entstanden sein konnte. Auf die Idee kamen wir damals nicht, obgleich wir als Kinder schon oft Blindgängern begegnet waren. Und ich sah uns Kinder, wie wir in der Küche einen Haufen Handgranaten fanden.

Wir nahmen eine Handgranate in die Hand – ganz schön schwer – und beratschlagten, was wir damit machen sollten. Achim hatte schon viel von Handgranaten gehört und erklärte mir mit Begeisterung den Unterschied von Stielhandgranaten, die die deutschen Soldaten überwiegend genutzt hätten, und den etwas selteneren Eierhandgranaten. Er sprach auch von einer Verzögerungszeit. Das Ding ginge nicht gleich hoch, sondern brauche einige Sekunden. Wieviel einige Sekunden sind, wussten wir nicht. Er wusste aber, wie man Handgranaten zündet und erklärte es mir. Kundig wie wir nun beide waren, beschlossen wir, die Handgranate scharf zu machen und durch das Loch in den Keller zu werfen. Aus unserer Sicht eine gute Idee, denn dadurch waren wir vor Splittern sicher.

Achim machte den Anfang. Er drückte den Verzögerungshebel an, zog den Sicherungsstift und ließ die Granate in das Loch fallen. Wir flitzten aus der Küche in die Deckung des Flurs und warteten auf den Knall. Er ließ nicht lange auf sich warten. Der ganze Keller dröhnte wie ein gewaltiges, nachgrollendes Gewitter. Als wir miteinander über den Knall redeten, konnten wir nur die Lippenbewegungen wahrnehmen.

Ich war dran. Meine Hände waren zu klein, den Sicherungshebel fest anzudrücken und zugleich den Sicherungsstift an seinem Ring heraus zu ziehen. Daher nahm ich beide Hände, Achim zog den Sicherungsstift und ich ließ die Granate ins Loch fallen – diesmal Ohren zu und weg!

Visuell habe ich noch heute die Pyramide der gestapelten Granaten vor Augen: 4×4+3×3+2×2+1=30. Das entsprach genau meiner visuellen Erinnerung. So sah die Pyramide der Granaten aus. Bis alle weggeputzt waren. Wir hatten überlegt, ob wir noch einige aufheben sollten, entschieden uns aber dagegen. Die Gefahr, dass andere Trümmerkinder unseren Spielzeugschatz finden könnten und missbrauchten, war zu groß. Für andere war das auch viel zu gefährlich, meinten wir und fühlten uns erfahren und groß.

Als ich vor dem Haus stand, wurde es mir bewusst: Wir müssen damals eine ganze Division von Schutzengeln gehabt haben. Der Blindgänger muss so mächtig gewesen sein, dass er wahrscheinlich bis in den Kellerboden durchgeschlagen war und so fest darin steckte, dass der Zünder von unseren Handgranaten nicht beeinträchtigt werden konnte.

Am Abend schrieb ich die Geschichte im Hotel nieder. Ein Flashback von plötzlicher Erinnerung, wie der Psychologe das nennt! Dabei sprudelten die Erinnerungen an eine Vielzahl weiterer Erlebnisse dieser Zeit und morgens um drei Uhr hatte ich über 80.000 Zeichen, etwa 35-40 Druckseiten in den Computer gehackt.

Weitere Erinnerungen hatte ich auf vier Seiten in Stichworten festgehalten. Es wurde der Anfang des nicht ganz undramatischen, aber spannenden und manchmal auch komischen Zeitzeugenberichts, von einem Handgranaten werfenden Trümmerkind bis zu einer ungewöhnlichen Karriere als Sicherheitsberater. Ein Leben, das immer wieder Berührungen zu Spionage, Entführungen, Schmuggel, Schwarzmarkt, Korruption und den verschiedensten Formen der Kriminalität hat.

  • Leseproben: Erstes Leben

    Leseprobe – Erstes Leben: Kind als Zeitzeuge beim Aufbau eines Spionage- und Sabotagedienstes gegen die sowjetischen Besatzungstruppen

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  • Leseproben: Zweites Leben

    Zweites Leben – Leseprobe: Während das erste Leben eine Serie packender Erlebnisse in den Trümmern, auf Hamsterfahrten, dem Schwarzmarkt mit erlebtem Mord und Selbstmorden und die Entführungsversuche der Sowjets gegen meinen Vater beschreibt, umfasst das zweite Leben die Zeit zwischen 1959 (Umzug nach Bonn) und 1969.

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  • Leseproben: Drittes Leben

    Das dritte Leben ist gekennzeichnet durch mein etwas ungewöhnliches Studium. Ich hatte erkannt, dass Wirtschaftsprüfer keine Ahnung von der EDV hatten. Ich wollte Wirtschaftsprüfer werden. So bat ich einen Computerhersteller, mich während meines Studiums in sein Traineeprogramm aufzunehmen.

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DLF Kultur | Reihe "Im Gespräch"

Rainer v. zur Mühlen im Gespräch mit Katrin Heise


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