Während das erste Leben eine Serie packender Erlebnisse in den Trümmern, auf Hamsterfahrten, dem Schwarzmarkt mit erlebtem Mord und Selbstmorden und die Entführungsversuche der Sowjets gegen meinen Vater beschreibt, umfasst das zweite Leben die Zeit zwischen 1959 (Umzug nach Bonn) und 1969.
Wie Ludwig Erhard mir das Zigarrenrauchen beibrachte
Den Anfang der Wahlnacht im September 1965 verbrachte ich mit Mitgliedern der Jungen Union (war dort Vorstand) in unserem Vereinsraum in der Bonner Königstr. Ich beschloss, den Wahlsieg von Ludwig Erhard in seinem Bungalow zu feiern. Wir kannten seinen Ziehsohn Kluth, der zu Hause anrief und fragte, ob er mit ca. 35 Leuten kommen dürfe. Erhard freute sich. Er begrüßte uns mit Sekt und seinen berühmten Zigarren. Er brachte mir auch das Zigarrenrauchen bei, wie man zuschneidet, anzündet und sie in der Glut hält. Er machte mich bis heute zum Zigarrenfreund.
Der Abend hatte aber noch viele andere Facetten. Ich lernte Margarete T (Name geändert) näher kennen. Wir kannten uns flüchtig von den Mitgliederversammlungen und aus der politischen Arbeit.
Wenige Tage später machten wir zwei eine Wochenendreise nach Arnheim zum Kröller-Müller-Van Gogh-Museum. Als wir die Bilder der reichen van Gogh-Sammlung betrachteten, blieb MT vor dem Nachtcafé von Arles lange stehen und ging auch immer wieder zu ihm zurück. „Kannst Du mir das nicht klauen?“ flüsterte sie mir scherzhaft ins Ohr. Ich beschloss, das Bild zu kopieren.
In Berlin war ich 1956-59 auf einem Gymnasium, das so etwas wie einen musischen Zweig als Schulversuch hatte. Ich hatte mich damals für Malerei entschieden und belegte daher sechs Stunden in der Woche Öl-Malkurse und weitere vier Stunden Kunstgeschichte.
Also kaufte ich mir zunächst in Arnheim ein Poster des Gemäldes in Originalgröße. Daran kann man gut analysieren, wie der Maler den Pinselstrich ansetzte. Ferner erwarb ich Literatur über van Gogh, seine Farben, wie er grundierte, lasierte, was er für Pinsel und was für Leinwand er verwendete.
Ich hatte vor, das Werk täuschend echt zu kopieren. Aber ich wollte auf keinen Fall, dass es eine Fälschung wurde. Dafür muss man als Kopist Sorge tragen. Und daher kam ich auf die Idee, nicht auf Keilrahmen-Malerleinwand zu malen, sondern auf Buchbinderleinwand. Jeder kennt die typischen Fotoalben, die mit unterschiedlich grob strukturierter Leinwand eingebunden sind. Davon besorgte ich mir entsprechende Bögen. Jeder Laie, der sich das Bild von hinten ansieht, erkennt sofort, dass die Leinwand auf Papier kaschiert ist, also nicht ein Original von van Gogh sein konnte. So wagte ich auch, das Bild mit Van Goghs Signatur zu versehen. Die Signatur brachte ich aber an einer Stelle an, an der der Maler nie signiert hatte – auch das als Vorsichtsmaßnahme, nicht als Fälscher und Betrüger verdächtigt zu werden.
Kopieren ist gar nicht so einfach. Man vertut sich verflixt schnell mit den Perspektiven. Und ein kleiner Fehler bei einem Farbfeld mit falschem Winkel oder einer Linie und das ganze Bild wirkt unprofessionell. Viel Arbeit wollte ich mir aber auch nicht machen. So machte ich mir die Sache einfach. Ich stellte ein DIA des Posters her, projizierte es auf die Leinwand, folgte den entscheidenden Perspektivlinien mit Zeichenkohle und malte das „Nachtcafè von Arles“. Die typische Pinselführung des Künstlers hatte ich ein oder zwei Stunden lang zuvor geübt. Das ist wichtig, damit der Pinselschwung stimmt und das Bild die Lebendigkeit des Originals gewinnt. Am Abend war das Bild fertig. Margarete bekam es zum Geburtstag und hängte es in ihr Wohnzimmer.
Sie stammte aus einer Tabakfabrikantenfamilie vom Niederrhein und es bestand eine über Generationen begründete Freundschaft zu einer Politikerfamilie. Zwei Brüder waren Spitzenpolitiker, ein weiterer war Volkswirtschafts-Professor. Sie alle besuchten immer wieder Margarete, wenn sie in Bonn waren. Der Professor kam kurz nach ihrem Geburtstag, um ihr zu gratulieren. Er sah den Van Gogh, strich mit der Hand darüber, erkannte die Plastizität der Pinselstruktur und fragte „Ist der echt?“ Da van Gogh zeitlebens nur wenige Bilder verkaufen konnte, sondern dort, wo man ihm am Niederrhein Bett und Essen gewährte, mit seinen Bildern bezahlte, war das gar nicht so abwegig für Tabakfabrikanten.
Sie machte aber etwas Verblüffendes: „Für 450 Mark kannst Du den haben. Mein Freund malt mir einen neuen!“ Er kaufte und ich musste ein zweites „Nachtcafè von Arles“ malen. Das gelang wieder sehr gut und ein weiterer Besucher aus dem Freundeskreis erwarb dieses Bild auch für 450 Mark. Ich brauchte für die Kopien einen knappen Tag. 450 DM waren damals mehr als ein Monatsgehalt. Als ich den dritten malte, hatte sie eine geniale Marketingidee. Ich solle immer ein originalgroßes Bild und dazu das gleiche Motiv noch einmal in klein malen. Die Bilder hängte sie dann nebeneinander in ihr Büro. Fast jeder Besucher fragte und viele kauften!
Fließbandarbeit war angesagt, denn die Bilder gingen weg wie warme Semmeln. Die kleinen Nachtcafès kosteten dann 250 DM, die großen weiterhin 450. Mir wurden aber die immer gleichen Motive langsam zu langweilig. Also begann ich, auch andere Impressionisten zu kopieren. Solche, die ich auch selbst bis heute am liebsten betrachte. Suzanne Valadon, Maurice Utrillo, Claude Monet (besonders oft das Londoner Parlament im Nebel – aber nicht in seiner Originalgröße) und andere wie Vlaminck. Die Bilder hingen dann einmal klein und einmal groß in ihrem Büro. Als Chefsekretärin des ehemaligen Bundesministers Bruno Heck – zu dieser Zeit Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung – war sie erfolgreicher als mancher Galerist. In ihrem Büro gaben sich Politiker und Vorstände der Großunternehmen, die Spender und Zustifter, die Klinke in die Hand. Und mit wem stellt man sich immer gut? Mit der Chefsekretärin natürlich. Kleines Schwätzchen über Kunst. Mein Freund malt die Kopien. Ja und schon war der Umsatz gesichert.
Ich verkaufte heftig, zeitweilig drei oder vier Bilder in einem Monat. Meistens verdiente ich (bei etwa drei Tagen Kopierarbeit), das Einlesen in die Techniken der verschiedenen Künstler nicht gerechnet, im Schnitt 1000 DM. Das waren damals Gehälter leitender Angestellter mit Handlungsvollmacht oder gar Prokura. Wir machten phantastische Reisen davon. Ich konnte mir immer ein Auto leisten. In den sechziger Jahren waren selbst uralte Autos noch Luxus und Lehrlinge mit Auto waren fast undenkbar.
Aber irgendwann merkten wir, dass unsere Beziehung nicht ein Leben lang gut gehen würde. So trennten sich unsere Wege. Mein Vertriebsweg war plötzlich weg. Ich hatte sogar überlegt, bei der Malerei zu bleiben. Ich hatte auch eigene Bilder angefangen. Die gingen genauso gut. Und das machte mir Mut.
Ich schaute mir in Bonn einige Bäckereien an, die aufgegeben wurden und erwog, in einer davon eine Galerie zusammen mit einem Bildhauer und einer Grafikerin von der Essener Folkwangschule zu eröffnen. Dazu kam es dann aber nicht mehr. Bald nach Beginn meines Studiums in Köln hatte ich die Idee gehabt, mich mit Computermissbrauch zu befassen. Und das erwies sich während des Studiums und danach wirtschaftlich als noch wesentlich attraktiver als die Malerei. Bis heute.
Ich habe seither nie wieder ernsthaft gemalt. Heute habe ich manchmal Lust. Es gibt Monets, die ich noch nie kopiert habe. Aber ich habe Angst, nach über fünf Jahrzehnten nicht mehr so gut zu sein. Eine schlechte Kopie würde ich mir nicht verzeihen. Und deshalb lasse ich es lieber.
Uni-Besetzung 1968 in Bonn
Rudi Dutschke war am 6. November 1967 in Bonn und hatte Kundgebungen organisieren wollen. Der Rektor gab aber keinen Saal frei. Also organisierte er zusammen mit dem SDS-Mitbegründer und Vorstand Hannes Heer und anderen Gleichgesinnten eine Protestkundgebung im großen Innenhof des Hauptgebäudes der Uni, dem Schloss. Es begann zu regnen und war kalt. Also zog man mit den feucht-stinkenden Klamotten in das riesige Treppenhaus und Rudi Dutschke begann seine „revolutionäre Rede“.
Es waren aber auch Burschenschafter gekommen. Da Dutschke & Co Meister im Stören von Vorlesungen waren, dachten die sich: Das können wir auch. Sie fingen an, lautstark Karnevalslieder zu singen. „Warum ist es am Rhein so schön“, „Lore leih mir Dein Herz und sei lieb zu mir“ und „Humba Humba Täteräää“. Dutschke reagierte entnervt. Die Situation wurde durch Jürgen Rosorius vom RCDS gerettet. Er bot anstelle der demagogischen Rede Dutschkes eine Diskussion mit ihm an. Dutschke ging darauf ein. Man muss sagen, es wurde eine brillante Veranstaltung. Rosorius war argumentativ besser als der Demagoge Dutschke, aber beide waren einfach gut, intellektuell einander gewachsen, mit viel Wissen. Man konnte es als Politschauspiel genießen. Und auch die Burschenschafter hörten gebannt zu.
Eigentlich aber, so hatte ich später gehört, hätte Dutschke auch eine Uni-Besetzung organisieren wollen. Das kam aber nicht aus. Die linken Kräfte waren im konservativen Bonn organisatorisch wohl noch nicht stark genug und die Vorbereitung zu kurz. Man beließ es bei der Diskussionsveranstaltung, gab aber den Plan einer Besetzung offensichtlich auf. Dutschke reiste mit der abfälligen Bemerkung Rosorius gegenüber ab, die Bonner seien für die Revolution einfach noch nicht reif.
Für die Planung einer Besetzung gab es am 7. Februar 1968, also kurz danach, einen zusätzlichen Anstoß. Der Rektor der Universität hatte vier Vertreter der größeren politischen Studentengruppen zu einem Gespräch ins Rektorat eingeladen. Hannes Heer; der Chef des SDS (ich konnte ihn ganz gut leiden, denn er konnte sehr witzig sein und wir trafen uns recht oft in der Kerze). Hannes Heer rief seine SDS-Kommilitonen auf, ins Rektorat mitzukommen. Das Gespräch kam nicht zustande. Es begann ein „sit in“, wie man solche Art von Blockaden oder Besetzungen nannte. Schließlich wurde das Rektorat von der Polizei geräumt.
Schon am nächsten Tag erfuhr ich, dass man sich noch am Abend in der Kerze getroffen hatte und über diverse Ideen, wie man reagieren wollte, sprach. Eine davon war Besetzung der Universität und Lahmlegung des Lehrbetriebs.
Im Mai 1968 war es dann so weit. Der SHB (Sozialistischer Hochschulbund) und andere links orientierte Gruppen, wollten die Bonner Universität endlich doch besetzen, wurde mir kolportiert. Land auf und Land ab gab es diese Besetzungen schon. Man war der Ansicht, dass das im – wie man sagte – „muffigen und spießigen Bonn“ ein Kinderspiel sein müsste. Als ich davon erfuhr, analysierte ich das Universitätsgebäude unter dem Aspekt, wie ich eine solche Besetzung organisieren würde. Gewissermaßen nach dem kriminalistischen Grundsatz: „Denke wie der Dieb!“.
Das Hauptgebäude der Bonner Universität ist das alte Stadtschloss der Kölner Kurfürsten. Es ist recht langgestreckt, hat aber wie viele Schlösser nur wenige Eingänge. Für Besetzer müsste es recht einfach sein, sich eine vergleichsweise geringe Menge an Barrikaden zu verschaffen, um die Nebeneingänge, die zudem auch nicht großdimensioniert sind und deren Türen alle nach innen aufgingen, von innen zu verrammeln. Schwieriger erschien mir das für das große Haupttor, drei nebeneinanderliegende Torbögen mit schweren und großen schmiedeeisernen Toren.
Ich hatte mir in dem Kopf gesetzt, die Besetzung zu verhindern. Nicht mit mir, dachte ich also und sandte meine Späher aus. Ich kannte nicht nur die Christdemokraten, sondern hatte auch gute Kontakte durch persönliche Bekanntschaften zu den anderen Organisationen, vor allem dem Sozialistischen Hochschulbund. Von meinem besten linken Kontakt, ich spielte mit ihm und anderen immer wieder Doppelkopf oder Skat in der Kerze, erfuhr ich die zeitliche Planung der Besetzung sowie das Vorgehen der Besetzungsplaner. Seine Offenheit schob ich auf den Alkoholpegel. Was ich damals nicht wusste war, dass dieser sich heftig „links“ gebende Kommilitone Silberbach (Name geändert) ein Stipendium hatte, das eine Stiftung der CIA finanzierte. Offiziell eine Stiftung des früheren US-Außenministers John Foster Dulles als Gründer, de facto aber finanziert von dessen Bruder, dem ehemaligen CIA-Chef (bis 1961) Allen Welsh Dulles. In Bonn war Derartiges damals keine Seltenheit. Ich erfuhr das von meinem Vater. Diese Stiftung hatte nämlich auch mir ein Stipendium angeboten. Vater kannte die Hintergründe und riet mir ab, es anzunehmen. Klar, für die CIA zu arbeiten kam für meinen Vater seinerzeit nicht in Frage und auch nicht für mich.
Ich erfuhr auch, dass die linken Strategen schwere Stahlketten besorgen wollten. Man wollte die Tore schließen und mit den Ketten aufs Einfachste verhindern, dass sie geöffnet werden können. Keine Barrikaden aus Baustellenmaterial, keine Reifen oder Trümmer wie an anderen Hochschulen.
Der Zeitplan war eng. Aber was die können, konnte die Junge Union schon lange. Ich nahm über einen Bundestagsabgeordneten vom Innenausschuss zum Bundesgrenzschutz in Hangelar bei Bonn Verbindung auf. Er hatte den Kommandeur gebeten, uns Ketten und schwere Vorhängeschlösser zur Verfügung zu stellen. So waren wir in der Lage, wenige Stunden vor der geplanten Besetzung die Tore in geöffnetem Zustand so zu verketten, dass niemand in der Lage war, die Gittertore zu schließen. Die erste Etappe war gewonnen.
Daraufhin entschieden sich die „Revolutionäre“, zum 27.5.1968 wenigstens eine Hörsaalbesetzung von Hörsaal I zu organisieren. Die Besetzung von Hörsaal I wäre ohne körperliche Gewalt nicht zu verhindern gewesen. Ein Häufchen Randaletypen, unter anderen ein späterer Bundesrichter, waren sichtbar gewaltbereit. Ich entschied, die Besetzung abzuwarten und zu beobachten. Zum Glück begannen die 20 Besetzer tatsächlich mit dem angekündigten Hungerstreik.
Wir warteten geduldig zwei Tage, bis der Hunger so richtig wirkte. Dann kaufte ich für meine JU- und RCDS-Mitstreiter frisch gebackene Hähnchen. Das Geld spendete uns wieder der Bundestagsabgeordnete, der für meine politischen Finanzwünsche immer ein offenes Ohr gehabt hatte. Später erfuhr ich von einem Freund meines Vaters, dass seine Mittel für solche Aktionen fast immer von der CIA gekommen seien, die auch gelegentlich Motivwagen des Kölner Rosenmontagszugs finanzierte, wenn der Propagandacharakter stimmte. Nun, pecunia non olet (Geld stinkt nicht), sagten schon die Römer.
Mit den duftenden Hähnchen drangen wir gegen 22:30 Uhr abends überraschend in den Hörsaal ein, setzten uns in die Nähe der Luftmatratzen und Schlafsäcke und machten Appetit. Abgenagte Knochen flogen immer in Richtung der Besetzer und schufen einen intensivierten, den Appetit anregenden Duft. Kleine Folter für Hungerstreiker, aber nicht durch UNO-Konvention geächtet.
Ein hungriger Typ wurde dann aggressiv und andere folgten. Also gaben wir uns friedlich und verdufteten im wahren Sinne des Wortes mit der Bemerkung, Christdemokraten träten für Gewaltfreiheit ein. Der Rückzug erfolgte natürlich unter Zurücklassung der restlichen Hähnchen.
Wir führten Anderes im Schilde. Durch den Besuch hatten alle meiner Beteiligten gute Übersicht, wie viele Leute wo lagerten, wo die Ausgänge waren, wo öffenbare Fenster und Türen zu dem Innenhof mit Springbrunnen führten. Das war wichtig, denn ich hatte auch Kommilitonen aus Köln engagiert.
Ich kannte den Pedell der Uni. So wurde der Hausmeister damals noch traditionell genannt. Ich glaube er hieß Wiebel und er hatte den Spitznamen „Feld-Wiebel“. Er war ein netter Mann, der „seine Studenten“ alle liebte. Die Linken wie auch die Bürgerlichen. Den Linken schloss er schon mal heimlich einen Hörsaal für eine Versammlung auf, von der der Rektor nichts mitbekommen sollte. Aber die Besetzung seiner Uni, ohne ihn vorher zu fragen, ging einfach zu weit. Also unterstützte er mein Anliegen.
Ich bekam schon am Vortag einen Schlüssel zum Technikraum, von dem aus die Springbrunnen gesteuert werden konnten und eine technische Einweisung. Aber auch einen Schlüssel für die Toiletten. Kurz vor 4 Uhr morgens schalteten wir die Springbrunnen ein, unternahmen aber noch nichts. Wir warteten ab, etwaiges Misstrauen gegen den plötzlichen Wasserfluss durch Gewöhnung abzubauen und lagen auf der Lauer in den abgedunkelten Fluren. Mein Ziel: Rauschendes Wasser regt die Blase an, denn der Hungerstreik war mit viel Bier begleitet worden. Die nahen Toiletten hatten wir abgeschlossen und Zettel angebracht: „Defekt! Bitte Toiletten im 1.OG benutzen!“ Im ersten Obergeschoss das gleiche: Bitte Toiletten im 2.OG benutzen. Als mehrere der Streikenden auf dem Klo waren und die anderen schliefen, stürmten wir mit 30 oder 40 Aktiven unter dem Schlachtruf „Die Revolution schläft, die Reaktion wacht!“ in den Saal. Wir sammelten die verlassenen Luftmatratzen und einige Schlafsäcke ein und warfen sie in den Springbrunnen des Innenhofs. Für diese Kommilitonen war die Nacht schon mal zu Ende. Die anderen schälten sich schlaftrunken aus ihren Schlafsäcken. Mit deren Luftmatratzen geschah gleiches.
Da stand die Revolution in den Unterhosen, fluchte laut und konnte nichts gegen unsere Aktion unternehmen. Ich hatte veranlasst, dass die Taschen der Kleidungsstücke vor dem Bad im Brunnen geleert werden. Denn auch einige Hosen wurden „gewaschen“. Wir wollten aber keinen Schaden anrichten. Da wir kein Licht gemacht hatten, war das den Besetzern erst gar nicht so recht bewusst. Nachher bedankte sich einer der Besetzer bei mir für die Umsicht. Man kannte sich ja, auch wenn es andere politische Lager waren. Man beschimpfte den anderen als „Linke Hippe“ und umgekehrt als „Rechte Sau!“ Und eigentlich waren die meisten so ganz ok! Übrigens hatten wir wenige Tage später in der Kerze wieder einen gemeinsamen Skatabend.
Der Danksager hatte seinem Vater voll revolutionär für die gute Sache der Revolutionsfinanzierung eine goldene Uhr geklaut und wollte sie verkaufen. Ein Bad im Springbrunnen hätte die alte Taschenuhr nicht überlebt. Er hat sich den Verkauf dann anders überlegt und die Uhr wieder zurückgelegt. Sein Vater hat nie etwas bemerkt. Da er außer Unterhose und Unterhemd nichts Trockenes mehr hatte, fuhr ich ihn anschließend mit meinem DKW 3=6 sogar nach Hause. Er selbst wurde später Richter.
Das war das Ende der Besetzung.
Rudi Dutschke wurde am 11. April 1968, kurz vor der Hörsaalbesetzung, feige am Kurfürstendamm vor dem SDS-Büro niedergeschossen. Alle, die ihn kannten oder auch als Gegner erlebt hatten, waren zutiefst betroffen über das feige Attentat. Rudi Dutschke erlag 1979 seinen schweren Hirnverletzungen. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch gibt es übrigens eine gute Biografie über ihn, die seine Witwe mit viel Liebe und auf hohem intellektuellem Niveau geschrieben hat. Man sollte sie lesen, um ihn und die 1968-er-Zeit zu verstehen.
Silberbach, meinem Informanten, bin ich 30 Jahre später wieder begegnet. Es war eine Tagung der Spitzenverbände der deutschen Industrie über Wirtschaftsspionage im Kölner BDI-Haus. Im Teilnehmerverzeichnis wurde er als Angehöriger der US-Botschaft Außenstelle Bonn geführt. Die Außenstelle Deichmannsaue in Bonn-Bad Godesberg war eine der größten Auslandsniederlassungen der CIA. Sie existiert noch heute, ist jetzt aber personell überschaubarer und Silberbach arbeitete danach in Frankfurt. Da ist die CIA-Vertretung wohl größer.
Eine Mischung aus erfolgreicher studentischer Politik, dabei immer wieder Begegnungen direkt oder indirekt mit Nachrichtendiensten beider Seiten ließen das Leben spannend bleiben. Bonn war nicht Berlin, aber teilweise noch viel aufregender.
Spitzenspione im JU-Vorstand
Mein ganzes Leben begleiteten mich Erlebnisse mit Nachrichtendiensten. Ohne zu wissen, wie mir geschah, wurde ich direkt nach Abschluss meines ersten Studiums in Bochum und Rückkehr nach Bonn wieder in den Vorstand der JU gewählt. Wieso man mich kurz nach der Rückkehr in den Vorstand wählte, ließ sich gut erklären. Im kommunalpolitischen Bonn tobte ein erbitterter Zwist um die kommunale Neuordnung. Das Land wollte die Verwaltungen vereinfachen und Bonn, Bad Godesberg, Beuel, Hardtberg, Röttgen etc. in einer kreisfreien Stadtgemeinde zusammenfassen. Um das zu verhindern baute Bad Godesberg noch schnell ein eigenes Theater, Beuel ein neues Rathaus. Auch die Kreisverbände der Parteien waren zerstritten. Wie ich später erfuhr, hatte sich unser Oberbürgermeister dafür eingesetzt, dass ich in den Vorstand der Jungen Union kam. Ich war aus Berlin zugezogen. 1969 wurde die große Kommunalreform in Nordrhein-Westfahlen realisiert. Mir waren die Ortsteile ziemlich schnuppe und dadurch war ich nicht umstritten. Also ein Kompromisskandidat, auf den sich alle einigen konnten.
Es gab. Ich betrachtete politische und persönliche Grabenkämpfe bis aufs Messer als völlig Unbeteiligter, denn ich war Berliner und hatte überhaupt kein Verständnis dafür, wie sich in den Schlammschlachten auch honorige Personen vergaßen und andere honorige Personen verunglimpften. Auch im Kreisverband der JU-Bonn mit damals – wenn ich mich richtig erinnere – um die 5.000 (!!!) Mitgliedern. Das hat heute kaum ein Landesverband mehr. Fast automatisch fielen mir dann diverse Ämter zu. So wurde ich Sachverständiger Bürger im Stadtplanungsausschuss und wirkte in diversen Gremien der CDU mit.
Auf einmal holte mich aber auch das Thema Nachrichtendienste und Spionage wieder ein. Für mich noch heute faszinierend war die Tatsache, dass Markus Wolff, der Chef der DDR-Spionage, den ich später zufällig in China persönlich kennenlernen sollte, in dem kleinen fünfköpfigen Vorstand der Jungen Union zwei seiner Agenten installierte. Beide waren als Romeos vorgesehen und sollten sich an interessante Mädchen in interessanten Positionen oder mit interessanten beruflichen Perspektiven heranmachen.
Dieter Bauer war keine gute Wahl von Markus Wolf. Ein Typ völlig ohne Ausstrahlung und als Romeo meines Erachtens zum Scheitern verurteilt. Sein vielleicht erwarteter Erfolg basierte offensichtlich auf Geld. Er war im Vertrieb von Caterpillar tätig, bekam sein Gehalt, wenn ich mich richtig erinnere in Dollar und war der „Reichste“ in der JU, hatte aber das Pech, auf ein Mädchen angesetzt worden zu sein, dem am Geld nicht viel lag. Sie verdiente selbst nicht schlecht. Es war meine Freundin, die auch meine Bilder verkaufte.
Nachrichtendienstlich aber kann ich das Interesse von Markus Wolf nachvollziehen, denn als Chefsekretärin des Generalsekretärs einer politischen Stiftung wäre sie eine interessante Quelle gewesen. Dieter Bauer wurde über Guinea in die DDR zurückgeholt. Er galt in Bonn als in Guinea verschollen. Als Genscher bei einem Staatsbesuch den Präsidenten Achmed Sékou Touré, aufforderte, Dieter Bauer aus der Haft zu entlassen, war der Präsident ehrlich erstaunt. Erst da teilte der BND Genscher mit, dass man wisse, wo er sich aufhalte. Peinliches Informationsdesaster auf diplomatischer Bühne.
Anders Wolfgang Goliath, der zweite Romeo-Agent im kleinen Vorstand. Ein witziger Typ. Schlagfertig, intelligent, frech, selbstbewusst. Jemand, mit dem man sich nie langweilte. Er hatte sich gleich an Inge Hanke gehalten, als ich sie in die JU und CDU geworben hatte. Sie war Chefsekretärin des Abgeordneten Marx, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Top-Quelle. Wir hatten uns angefreundet, waren mit Inge Hanke, Wolfgang Goliath und mit meiner Freundin zum Pilze suchen etc. und unternahmen viel – auch Reisen – miteinander.
Als ich Jahre später, ich war da schon als Sicherheitsberater selbständig, den Fernsehnachrichten entnahm, Wolfgang und Inge seien als Spione in letzter Minute der Verhaftung durch Flucht nach Madeira entgangen. Dort lag ein DDR-Schiff der Hochseefischerei, das direkt nach der Ankunft der beiden in See stach. Ich, der doch ziemlich vorbelastet war, konnte es einfach nicht fassen, dass diese beiden sympathischen Leute für die DDR gearbeitet hatten. Eine Woche vorher war Wolfgang noch in meinem Büro gewesen und wollte mir als Handelsvertreter moderne Büromöbel und Organisationsmittel verkaufen. Seither hatte Markus Wolf vermutlich auch ein paar Fotos meines Arbeitsplatzes.
Erst später, als ich unsere Kontakte durchdachte, fiel mir auf, dass er wohl zu vermeiden suchte, selbst fotografiert zu werden. Recht typisch für Agenten. Wir waren einmal mit der JU zu einem NATO-Besuch in Brüssel. Auf dem Gruppenfoto ist Wolfgang komplett von einem anderen Mitreisenden verdeckt. Aber als ich vom Verfassungsschutz befragt wurde, ob ich ein Foto von ihm hätte, hatte ich eine Idee. Er war bei den Schwimmsportfreunden in Bonn im Vorstand. Wohl eine andere Vereinigung, um eventuell an eine spionagerelevante Frau zu kommen. Ich empfahl, die Bilder vom Bunten Aquarium (dem Karnevalsfest, das der Klub veranstaltete) beim Bonner Fotografen Sachse einzusehen. Und in der Tat. Sie fanden gute Fotos von ihm.