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Drei Leben im Gegenwind

Das ist der Titel meines Zeitzeugenberichts.

Er liest sich wie ein Roman, ist interessant, weil er viele bislang unbekannte, nie veröffentlichte Fakten – beginnend mit den ersten Anfängen des Kalten Krieges – erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht. Er ist teilweise auch verblüffend, weil er schonungslos die Zeit nach dem Krieg mit ihren unvorstellbaren Zuständen und dem Überlebenskampf, dem nicht alle gewachsen waren, lebendig darstellt. Und er ist manchmal auch erschütternd.

Ich bin Kriegskind und meine Erinnerungen setzen im Sommer 1946 ein. Sie waren lange verschüttet. Am 15.12.2015 stand ich in der Cicerostr. / Ecke Paulsborner Straße vor einem Haus, in dessen Ruine ich mit meinem Freund Achim 30 Handgranaten gefunden hatte. Wir zündeten alle. Das dröhnte so schön, denn wir warfen sie scharfgemacht durch ein Loch im Fußboden einer Küche in den Keller. Ich habe Grund zur Annahme, dass sie auf einem Blindgänger detonierten. Denn dieses Loch gab es in den Decken aller darüber liegenden Etagen bis zum Dach. Nur eine schwere 6- bis 10-Zentner-Bombe konnte so sauber die Betondecken durchschlagen haben.

Das Wiedererkennen des Hauses löste meine Erinnerungen an die Nachkriegszeit schlagartig aus. Der Psychologe nennt das einen Flashback. Am Abend im Hotel schrieb ich dies Handgranatenerlebnis und mir vor Augen stehende andere erlebte Episoden der Zeit bis in die Morgenstunden nieder. Ungefähr 80.000 Zeichen kamen zusammen. Weitere Erlebnisse, die plötzlich präsent waren, skizzierte sie in einer Mindmap auf meinem Computer und setzte die Niederschrift in den folgenden Tagen und Wochen fort.

Im Herbst 2015, wenige Monate vor diesem Schlüsselerlebnis, das meine Erinnerungen freisetzte als wären sie gerade erlebt worden, hatte mich Dr. Enrico Heitzer, Historiker am Forschungsinstitut Sachsenhausen, zu meinem Vater interviewt. Er schrieb über ihn eine Biografie. Vater war operativer Leiter eines Nachrichtendienstes im beginnenden Kalten Krieg, der auf Veranlassung von Churchill in Berlin gegründet wurde. Seine Aufgabe: Aufbau einer Stay Behind Organisation (SBO) als Spionage- und Sabotageorganisation für den Fall, dass die Sowjets versuchen sollten, bis an den Rhein vorzudringen. Mein Vater war Nachrichtendienstler und spezialisiert auf sowjetische Truppen und Rüstung. Er sprach russisch wie deutsch.

Dr. Heitzer war völlig überrascht, dass ich – als er mich unvorbereitet anrief – zu Details der Tätigkeit präzise Angaben machte. Details und Namen teilweise mit Tarn- und Klarnamen, zu denen er in Archiven Bestätigung fand. Er bat mich, als einer der wenigen Zeitzeugen zu der Zeit bis 1959 unbedingt noch alles für die Nachwelt aufzuschreiben, was mir einfiel. Das wollte ich eigentlich nicht. Ich wusste nicht, wo ich hätte anfangen sollen. Ich fand den Anfang des Fadens aber nach dem Wiedererkennen meines „Handgranatenspielplatzes“ und nahm den Faden auf.

Ich habe ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis, das zu trainieren ich mein Leben lang gezwungen war: Ich bin gesichtsblind, kann also nur schwer Gesichter erinnern. Das ist ein angeborener Gendefekt wie Farbenblindheit. Als Kind bekam ich in Berlin dennoch viel mit, weil sich die Angst meiner Mutter, die Sowjets könnten Vater entführen und umbringen (gab auch Versuche), auf mich übertrug. Ich trainierte unbewusst Beobachten und mich an Beobachtungen zu erinnern. Ich verstand als Kind natürlich nicht alles, keine Hintergründe. War aber „trainierter“ aufmerksamer Beobachter und die Briten nahmen wiederholt von mir beobachtete Verdächtige fest. Ich erkannte Menschen z.B. an ihren Schnürsenkeln oder ähnlichen Nebensächlichkeiten. Später, als wir in Bonn lebten und Vater nicht mehr gefährdet war, fragte ich Ihn zu seiner Verblüffung über Details. So u.a. über eine Anwerbung von Agenten und er fing an, mir viel zu erzählen. Ich fing an, Zusammenhänge meiner Erinnerungen zu erkennen und zu verstehen.

Es entstand ein schonungsloser Bericht mit allem Ekel, den vielen Selbstmorden, den kalten Wintern, einem erlebten Mord am Stuttgarter Platz, Vaters Versteckspiel mit jeder Woche einem neuen Auto, der brutalen Wirklichkeit damaliger Nachrichtendienste, Schwarzmarkt mit Hildegard Knef. Andere lesen Krimis – ich erlebte sie. Alles nur Episoden, die es in anderen Schilderungen noch nie gab. Mehr über mich bei Wikipedia.

Ich wollte das Manuskript ursprünglich nicht veröffentlichen, es aber Archiven und/oder Redaktionen als Zeitzeuge zur Verfügung stellen. Ein Reporter des Spiegel, Alexander Smoltczyk, regte aber an, ein Buch daraus zu machen, weil man das Manuskript nicht weglegen könnte.

DLF Kultur | Reihe "Im Gespräch"

Rainer v. zur Mühlen im Gespräch mit Katrin Heise


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